Beschluss vom 11. Juni 2018 2 BvR 819/18
Die Überlastung eines Gerichts fällt in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Einem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine unangemessen lange Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur rechtzeitigen verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen. Mit dieser Begründung hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss der Verfassungsbeschwerde eines Beschuldigten gegen eine Haftfortdauerentscheidung stattgegeben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Dresden zurückverwiesen. Das Verfahren war nicht in der gebotenen Zügigkeit gefördert worden. Die Fachgerichte hatten bereits nicht schlüssig begründet, warum ein besonderer Ausnahmefall vorgelegen haben sollte, der es gerechtfertigt hätte, dass das Landgericht Dresden erst ein Jahr und einen Monat nach Beginn der Untersuchungshaft und sieben Monate nach der Anklageerhebung mit der Hauptverhandlung begonnen hat. Erst recht wird die bisherige Verhandlungsdichte mit weit weniger als einem Verhandlungstag pro Woche dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot nicht gerecht.
Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 3. November 2016 unter anderem wegen des Verdachts der schweren räuberischen Erpressung und der Bildung einer kriminellen Vereinigung ununterbrochen in Untersuchungshaft. Die unter dem 25. April 2017 verfasste Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ging am 27. April 2017 beim Landgericht ein. Am selben Tag zeigte der Vorsitzende der zuständigen 3. Großen Strafkammer (Staatsschutzkammer) - wie bereits zwei Mal zuvor im Jahr 2017 - beim Präsidium des Landgerichts die Überlastung der Kammer an. Am 13. Juni 2017 erklärte der Präsident des Landgerichts, dass er von einer nunmehr dauerhaften Überlastung der 3. Großen Strafkammer ausgehe, und errichtete die 16. Große Strafkammer als weitere Staatsschutzkammer, die das Verfahren aufgrund Beschlusses des Präsidiums zum 1. Juli 2017 übernahm. Am 21. November 2017 ließ das Landgericht die Anklage zu und beschloss die Eröffnung des Hauptverfahrens. Die Hauptverhandlung begann am 6. Dezember 2017. Bis zum 23. Mai 2018 hatte die Kammer 21 Termine anberaumt. Im Zeitraum Juni bis August 2018 hat die Kammer einen bis zwei Termine pro Monat anberaumt, in der Zeit bis zum 9. Januar 2019 drei bis vier Termine pro Monat. Einen Haftprüfungsantrag des Beschwerdeführers vom 7. Februar 2018 wies das Landgericht zurück. Die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Dresden mit Beschluss vom 27. März 2018 als unbegründet. Hiergegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes.
Die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte müssen daher alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. So ist im Falle der Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen. Die Untersuchungshaft kann dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Beschuldigten nicht zu vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt sind. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen. Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein. Die Überlastung eines Gerichts fällt in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte nachzukommen.
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